Transformationen politischer Gewalt
Die Geschichte moderner Gesellschaften und der internationalen Beziehungen wird üblicherweise als ein schrittweiser Verzicht auf Gewalt erzählt. Von einer Überwindung politischer Gewalt kann allerdings keine Rede sein. Aktuelle Tendenzen weisen vielmehr in die entgegengesetzte Richtung: Das weltweite Konfliktgeschehen hat an Intensität wieder zugenommen; Globalisierung und technologischer Wandel ermöglichen neue Formen kriegerischer und terroristischer Gewalt. Diese Entwicklungen verweisen auf Transformationen, die existierende Normen und Praktiken zur Einhegung politischer Gewalt herausfordern. Das Forschungszentrum „Transformations of Political Violence“ (TraCe) untersucht diese Entwicklungen mit dem Ziel, die Konsequenzen für den innergesellschaftlichen und internationalen Frieden zu identifizieren und Strategien zur Eindämmung politischer Gewalt unter den sich verändernden Bedingungen zu entwickeln.
Wer ist TraCe?
Das Forschungszentrum „Transformations of Political Violence“ ist ein interdisziplinärer Forschungsverbund von fünf hessischen Forschungsinstitutionen: Neben PRIF sind die Goethe-Universität Frankfurt, die Justus-Liebig-Universität Gießen, die Philipps-Universität Marburg und die Technische Universität Darmstadt beteiligt. Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erforschen über dreißig Wissenschaftler*innen von 2022 bis 2026 multiperspektivisch Transformationen politischer Gewalt. Koordination und Wissenschaftskommunikation sind am PRIF angesiedelt.
Gelebte Interdisziplinarität
Um die Transformationen politischer Gewalt zu verstehen, zu erklären und kritisch zu hinterfragen, integriert TraCe verschiedene disziplinäre Perspektiven, Analyseebenen und Methoden und nimmt unterschiedliche Formen von Gewalt in den Blick.
Sich irritieren zu lassen von anderen Disziplinen, ist ungeheuer wichtig, um neue Entwicklungen zu sehen.
Christopher Daase, PRIF TALK vom 23.03.2023
Das Zentrum bringt Perspektiven aus Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichts- und Rechtswissenschaften, Sozialanthropologie, Sozialpsychologie, Kultur- und Sprachwissenschaften und Informatik zusammen.
Mit dem zweiten, dritten, vierten, fünften Auge sieht man einfach mehr, und das ist unser Ziel.
Astrid Erll, PRIF TALK vom 23.03.2023
Warum es wichtig und spannend ist, Transformationen politischer Gewalt interdisziplinär zu erforschen, diskutierten Astrid Erll und Christopher Daase, TraCe-Sprecher*innen im ersten Projektjahr, mit Tina Cramer im Podcast PRIF Talk.
Welche Aspekte politischer Gewalt werden erforscht?
TraCe ist in drei thematische Forschungsfelder und einen Synergie-Arbeitsbereich gegliedert:
- Formen: Wandel und Kontinuität politischer Gewalt
- Institutionen: Prävention und Legitimation politischer Gewalt
- Interpretationen politischer Gewalt
- Synergien
Wie kann man politische Gewalt erforschen?
Politische Gewalt tritt in vielen Formen auf – von Femiziden über aufständische Proteste bis hin zu Kriegen zwischen Staaten – und hat immense moralische und politische Auswirkungen. Die Frage der Gesamtentwicklung politischer Gewalt ist jedoch nach wie vor kontrovers. Im ersten TraCe Working Paper resümieren die Autor*innen vorhandene Debatten und stellen drei allgemeine Positionen im Forschungsfeld fest: Politische Gewalt habe entweder abgenommen, sei eskaliert oder habe andere Formen angenommen. Sie stellen einen Rahmen zur Verfügung, um bestehende Ansätze zu unterscheiden, verfügbare Ergebnisse einzuordnen und weiter gehende Forschung anzuregen.
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- Daase, Christopher/Driedger, Jonas/Mannitz, Sabine/Kroll, Stefan/Simon, Hendrik/Wolff, Jonas: Transformations of Political Violence? A Research Program, Frankfurt/Main, TraCe Working Paper No. 1., 2022. DOI: 10.48809/PRIFTraCeWP2201.
Der russische Überfall auf die Ukraine und die Transformationen politischer Gewalt
Der russische Überfall auf die Ukraine bestimmte im Jahr 2022 nicht nur die mediale Berichterstattung, sondern führte auch in der Forschung dazu, grundlegende Annahmen zu überdenken: Wie müssen wir angesichts dieses zwischenstaatlichen Krieges, der Auswirkungen auf die gesamte globale Ordnung hat, über politische Gewalt nachdenken? Das Forschungszentrum TraCe stellte den Russland-Ukraine-Krieg in den Mittelpunkt seiner Auftaktveranstaltung in Berlin. Auch die TraCe-Ringvorlesung in Marburg beschäftigte sich in ihrer ersten Veranstaltung mit den Auswirkungen des Krieges auf die Gewaltforschung.
Mit dem Ende des Kalten Krieges setzte Ende der 1990er Jahre eine Phase der Hoffnung ein: Womöglich war nun das Ende der „alten“ zwischenstaatlichen Großkonflikte gekommen. Zwar gab es weiterhin Konflikte, auch kriegerische, aber Forscher*innen konstatierten einen Trend hin zu „kleineren“, innerstaatlichen oder entlang ethnischer Grenzen verlaufenden Konflikten. Dafür brachten Politikwissenschaftler*innen wie Mary Kaldor oder Herfried Münkler den Begriff der „neuen Kriege“ in die Diskussion. Der „alte“ zwischenstaatliche Krieg galt als Auslaufmodell.
Doch mit dem russischen Überfall auf die Ukraine scheint diese Annahme grundlegend in Frage gestellt. Die Vermutung liegt nahe, dass das Muster der „alten“ zwischenstaatlichen Kriege doch noch nicht der Vergangenheit angehört. Gleichzeitig können grundlegende Veränderungen in der Art der Kriegsführung beobachtet werden, beispielsweise im Umgang mit ziviler Infrastruktur oder Nuklearwaffen. Befinden wir uns nun in einer neuen Ära gewaltsamer Konflikte? Diese Fragen standen im Zentrum der Auftaktveranstaltung „Ein neuer alter Krieg? Der russische Überfall auf die Ukraine und die Transformation politischer Gewalt“. Vertreter*innen von Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft trafen sich dazu am 13. Dezember 2022 in der Hessischen Landesvertretung in Berlin.
Welche Rolle spielt Sprache?
„Die Sprachenfrage in der Ukraine wird seit dem Zerfall der Sowjetunion in Wahlkampagnen politisiert. Russlands Propaganda missbraucht diese Politisierung, um einen ukrainisch-russischen Sprachkonflikt in der Ukraine als Rechtfertigung für den Krieg zu konstruieren. Die Osteuropaforschung muss noch intensiver an Konzepten für Wissenstransfer in die Öffentlichkeit arbeiten, die Politik muss die Osteuropaforschung stärker als bisher hören,“ so TraCe-Forscherin Monika Wingender von der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Auch der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler war zu Gast und betonte in seinem Statement, dass ein oder zwei Kriege zwar Trends nicht falsifizieren, „die auf einer sehr viel größeren Anzahl innergesellschaftlicher Kriege beruhen. Aber es ist richtig, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zurzeit unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht und erhebliche politische Neuorientierungen erzwingt.“
Jonas J. Driedger verwies in der Diskussion auf die steigende Risikobereitschaft des russischen Regimes: Schon kurz nach Beginn der Invasion der Ukraine Anfang 2022 stellte sich heraus, dass das Putin-Regime seine Ziele nicht erreichen und einen enormen Preis für den Krieg zahlen würde. Eine Verkalkulation schloss er aus. Vielmehr argumentierte er, dass das Regime gewillt war, die Risiken der Invasion bewusst einzugehen.
Mit der Veranstaltung stellte sich TraCe als neuer friedenswissenschaftlicher Akteur im politischen Berlin vor und brachte Wissenschaft und Politik ins Gespräch.
Ein solcher interdisziplinärer Verbund ist ein starkes Aushängeschild für die hessische Konfliktforschung.
Angela Dorn, Hessische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, bei der Auftaktveranstaltung
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- Driedger, Jonas J.: Was jeder zur Risikobereitschaft des Putin-Regimes wissen sollte, PRIF Blog, 13. Januar 2023.