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Review

PRIF Jahresbericht 2023Die Polarregionen im Mittelpunkt

Forschung zu Arktis und Antarktis

Die Polarregionen im Mittelpunkt

Kachelförmige Weltkarte, die sowohl Arktis als auch Antarktis in der Mitte zeigt.
Foto: Strebe via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 DEED

Im ersten Moment denken die meisten Menschen vielleicht, dass die Polarregionen für die Friedens- und Konfliktforschung kaum relevant sind. Man stellt sie sich als ferne Eiswüsten vor, in denen lediglich Eisbären und Pinguine leben. Doch sowohl die Arktis als auch die Antarktis sind für die globale Friedens- und Konfliktdynamik von entscheidender Bedeutung – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Die PRIF-Wissenschaftler*innen Olena Podvorna und Patrick Flamm stellen diese Regionen in den Mittelpunkt ihrer Forschung.

In der öffentlichen Vorstellung gelten die Arktis und die Antarktis in der Regel als weit entfernte Regionen, als wunderschöne Landschaften aus Eis und Schnee, die nur spärlich von Menschen und Tieren bewohnt werden. Beide Polarregionen sind jedoch mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten, seit die Bedrohung durch den Klimawandel stärker in den Vordergrund des öffentlichen Diskurses rückte. Viele wichtige Themen werden angesprochen, wie z. B. das Abschmelzen von Eisschilden und Gletschern, das den Meeresspiegel in den Küstenregionen überall auf der Welt ansteigen lässt. Doch welche geopolitische Bedeutung haben diese Regionen und wie sind sie für Friedens- und Konfliktdynamiken relevant?

Ein neues Kapitel in der Arktis

Während des Kalten Krieges war die Arktis stark militarisiert, unter anderem auch mit nuklearen Kapazitäten und Frühwarnradarsystemen zur Erkennung feindlicher Raketen. Als direkte Verbindung zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten war die Arktis von entscheidender geostrategischer Bedeutung für die nukleare Abschreckung. Die Nordflotte, der größte Teil der sowjetischen Streitkräfte, war in der Arktis stationiert, ebenso wie die sowjetische U-Boot-Flotte.

Mit dem Ende des Kalten Krieges verlagerte sich der Fokus in der Region auf die Entwicklung einer zirkumpolaren Region, die sich geschlossen für den Umweltschutz und die nachhaltige Entwicklung einsetzt. Gorbatschow stellte sich eine Zone des Friedens „von Vancouver bis Wladiwostok“ vor. Im Jahr 1996 wurde der Arktische Rat ins Leben gerufen (siehe Infobox). Dieser Kurs endete jedoch im Jahr 2014 nach der russischen Annexion der Krim. Mit der russischen Vollinvasion in der Ukraine im Jahr 2022 wurde die Zusammenarbeit fast gänzlich eingestellt. Während die Arktis ein neues Kapitel begonnen hat, bleibt das Erbe der Militarisierung des Kalten Krieges bestehen und Sicherheitsfragen rücken wieder in den Mittelpunkt.

Die Region ist nach wie vor von großer geostrategischer Bedeutung für Wladimir Putins Russland, mit der Nordflotte als modernstem Teil der russischen Militärinfrastruktur. Darüber hinaus hat sie auch einen enormen wirtschaftlichen Wert, da sie die Quelle der meisten Ressourcen des Landes wie Gas und Kohlenwasserstoffe ist. Über die so genannte GIUK-Lücke, den offenen Ozean zwischen Grönland, Island und dem Vereinigten Königreich, sind die russischen Streitkräfte in der Arktis in der Lage, sehr schnell in Richtung Nordatlantik vorzustoßen. Russland wird nun als eine Bedrohung für die Sicherheit Europas wahrgenommen, was sogar Finnland und Schweden dazu veranlasst hat, der NATO beizutreten, nachdem sie jahrzehntelang eine ausgewogene und vorsichtige Sicherheits- und Außenpolitik betrieben hatten.

„Die Präsenz der NATO in der Region war in der Zeit nach dem Kalten Krieg begrenzt, und es gab einen stillen Konsens, dass sich die NATO aus der Region heraushalten würde“, erklärt die Forscherin Olena Podvorna. „Im Geiste von Gorbatschows Rede und dem Konzept des arktischen Exzeptionalismus wurde beschlossen, dass keine politischen und militärischen Themen auf der Tagesordnung des Arktischen Rates stehen sollten. Mit der Offenlegung der Energieressourcen im späten ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts änderte sich die Situation jedoch. Viele nicht-arktische Länder bekundeten ihren Wunsch, die Entwicklung der Arktis zu beeinflussen. Schon damals wurde die NATO aufgefordert, ihre Position gegenüber der Region zu präzisieren. Damals ging es jedoch um die wirtschaftliche (genauer gesagt: energetische) Dimension der Sicherheit.“

Infobox

Der Arktische Rat

Der Arktische Rat ist ein zwischenstaatliches Forum, das sich mit Fragen befasst, die die Regierungen der arktischen Staaten und die indigenen Völker der arktischen Region betreffen. Ihm gehören derzeit acht Mitgliedstaaten an, die sich aus den Ländern mit Territorien in der Arktis zusammensetzen: Kanada, Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Russland, Schweden und die Vereinigten Staaten.

Mit der illegalen Annexion der Krim im Jahr 2014 traten traditionelle Sicherheitsbedenken auf die Tagesordnung der arktischen Staaten. Seitdem haben die nordischen und baltischen Länder ihre Zusammenarbeit mit der NATO intensiviert, auch wenn sie darauf achten, dies nicht zu sehr zu propagieren. „Die Länder befanden sich in einem Dilemma,“ erläutert Podvorna. „Sie mussten ihr Sicherheitsniveau erhöhen, durften aber gleichzeitig Russland nicht provozieren. Das hat nicht geklappt. Am 24. Februar 2022 wurde deutlich, dass Moskau entschlossen und rücksichtslos die europäische Sicherheitsordnung verändern wollte. Harte Sicherheitsfragen kehrten auf die Agenda aller europäischen Länder zurück. Auf diese Weise wurde der Eintritt der NATO in die Arktis unumkehrbar. Welche Rolle sie dort spielen soll, bildet sich allerdings noch heraus. Alle fünf Länder der Nordischen Verteidigungskooperation (NORDEFCO), d. h. Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden, sind jetzt NATO-Mitglieder.“

Das Auftreten der NATO als Akteur in der Arktis stellt eine neue Herausforderung für die Arktisforschung dar. Die größte Lücke betrifft das Nordatlantische Bündnis und seine derzeitige und künftige Politik in der Region. Während früher traditionelle Sicherheitsfragen als nicht so relevant für die Region angesehen wurden und Forscher*innen nicht besonders daran interessiert waren, sie zu untersuchen, muss die Wissenschaft nun neue Ansätze entwickeln, wie es Olena Podvorna derzeit in ihrem Projekt tut.

Eine neue Rolle für die NATO?

Traditionell hat sich die NATO in der Arktis zurückhaltend gezeigt, und ihre Rolle wurde von den arktischen Staaten bestimmt. Insbesondere Norwegen hat große politische und diplomatische Anstrengungen unternommen, um das Bündnis in der Arktis zu engagieren. Jetzt stellt sich diese Aufgabe auch für andere europäische Arktis-Staaten.

Sogenannte Grauzonenaktivitäten oder hybride Kriegsführung – z. B. verdeckte Operationen, die darauf abzielen, einen relativen strategischen Vorteil zu erlangen – haben in den letzten zehn Jahren in der Region zugenommen: Russische Fischereischiffe, die angeblich aus Versehen die Grenzen überqueren, das Durchtrennen von Unterseekabeln und die dadurch verursachte Schädigung der Cyber-Infrastruktur oder das Auftauchen unbekannter U-Boote vor der schwedischen Küste sind nur einige Beispiele. Ähnlich wie im Kalten Krieg werden auch hier staatliche Propaganda und verdeckte Desinformation eingesetzt, um die Werte anzugreifen, auf denen die europäischen Gesellschaften beruhen. Das übergeordnete Ziel dieser Strategie besteht darin, die politische Einheit Europas zu untergraben und neue Einflusssphären für reaktionäre politische Bewegungen zu schaffen, die Russlands „might is right“ -Regel folgen. Solche Aktivitäten zielen vor allem auf die Zivilbevölkerung ab, um Panik zu schüren und Länder im Inneren zu destabilisieren, was zur Untergrabung der Sicherheit eines Staates insgesamt führen kann. Solche Bestrebungen sind jedoch schwer zu erkennen und ihre Auswirkungen schwer zu bestimmen, so dass viel darüber diskutiert wird, wie man mit ihnen umgehen sollte.

„Es ist schon bemerkenswert“, sagt Podvorna, „dass in den letzten zehn Jahren alle nordischen Länder in der Arktis einfach die Augen geschlossen haben. Sie sahen, dass Russland etwas Verdächtiges tat, aber das Mantra war immer: ‚Lasst uns sie nicht provozieren!‘ Natürlich kann man eine solche Politik erklären und verstehen. Wenn man es jedoch mit einem rücksichtslosen Aggressor zu tun hat, sollten die Politik und die Strategie anders aussehen. Am Ende kam es zu einer ungerechtfertigten umfassenden Aggression. Letztendlich werden Russland und sein Verhalten von der NATO im Strategischen Konzept 2022 und von den europäischen Arktisstaaten als Bedrohung definiert. Diese Länder können weder sich selbst noch die Arktis, deren militärisch-strategische Bedeutung zugenommen hat, schützen. Deshalb haben sie die NATO gebeten zu kommen.“

Diese verstärkte NATO-Präsenz erhöht die Schwelle der Abschreckung für feindliche Handlungen durch Russland. Die Frage nach der künftigen Rolle der NATO als „game changer“ in der Arktis ist jedoch noch offen und unklar.

Die Aufgabe wird darin bestehen, die Regeln dafür festzulegen, was die NATO in der Region tun sollte, um die Sicherheit Nordeuropas und insbesondere der baltischen Staaten zu gewährleisten. „Ich denke, dies ist auch ein Moment, in dem sich die NATO verändert“, erklärt Podvorna. „Die NATO ist dabei, sich selbst neu zu bewerten, und vielleicht wird ihr Eintritt in die Arktis ihr helfen, eine neue Identität zu finden, zu verstehen, was die NATO im 21. Jahrhundert ausmacht, und ob es möglich ist, eine neue Sicherheitsstrategie zu entwickeln, eine hybride Strategie, die traditionelles und nicht-traditionelles Sicherheitsdenken und -handeln kombiniert. Das Nachdenken über harte Sicherheitsfragen sollte nicht unbedingt im Gegensatz zu den so genannten weichen Fragen stehen, insbesondere zum Klimawandel und zu Umweltfragen.“

Genau diese Fragen bilden den Kern des Forschungsprojekts von Olena Podvorna. Sie untersucht die Auswirkungen von Russlands Krieg gegen die Ukraine auf die Sicherheit der europäischen Arktis und die Rolle der NATO im hohen Norden: wie sich sowohl die NATO als auch die Arktis als Region verändern und ein Selbstverständnis entwickeln und wie diese Rolle in die Gesellschaft hinein kommuniziert wird. In diesem Prozess könnte die NATO neue Aufgaben übernehmen, wie z. B. die Cyberverteidigung, die Bekämpfung von Desinformation oder die Aufklärung darüber, wie man sich in Notsituationen zu verhalten hat.

Den Frieden in der Antarktis bewahren

Im Gegensatz dazu stehen in der Antarktis Umweltfragen immer noch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auch die Governance ist im Vergleich zur Arktis ganz anders. Das Schicksal der Antarktis wird nicht von ihren Anrainerstaaten bestimmt, sondern durch das Antarktische Vertragssystem (siehe Infobox), das seit 1961 in Kraft ist und weithin als eines der erfolgreichsten multilateralen Regierungsabkommen gilt. Seit Jahrzehnten ist die Region von Kriegen und Konflikten von außen abgeschirmt, ein Status, der gemeinhin als antarktischer „Exzeptionalismus“ bezeichnet wird.

Infobox

Das Antarktische Vertragssystem

Der Antarktisvertrag trat 1961 in Kraft und hat derzeit insgesamt 56 Unterzeichnerstaaten. Von diesen haben sich nur 29 Länder durch ihre wissenschaftliche Qualifikation als beratende Vertragsparteien qualifiziert, was ihnen Entscheidungsbefugnisse verleiht. Der Antarktisvertrag war das erste Rüstungskontrollabkommen während des Kalten Krieges, das militärische Aktivitäten verbot und die wissenschaftliche Erforschung als einzige legitime Aktivität festlegte. Zusammen mit einigen verwandten Abkommen bildet er das Antarktische Vertragssystem.

Das Antarktische Vertragssystem hat es möglich gemacht, mit Bedrohungen umzugehen und Ängste abzubauen. Zum Beispiel hatte Australien jahrzehntelang Angst vor den Einrichtungen der Sowjetunion in der Antarktis. Das Antarktische Vertragssystem erlaubt keine militärischen Kapazitäten, außer für die Logistik, und es erlaubt jederzeit Inspektionen zu jeder Basis. Dies bedeutet, dass Sicherheitsbedenken viel besser gehandhabt werden können als in der Arktis.

„Der Antarktisvertrag ist sehr erfolgreich, aber er hat all diese Vor- und Nachteile“, erklärt der Forscher Patrick Flamm. „Er ist ein hierarchisches System und hat ein Innen und ein Außen. Man könnte die Frage stellen: Wer sind diese 29 Nationen, die behaupten, dass sie stellvertretend für alle über die Antarktis entscheiden können?" Alle können den Vertrag unterzeichnen und an den Konsultationstreffen teilnehmen. Aber um eine substanzielle Entscheidungsbefugnis zu haben, müssen die Länder nachweisen, dass sie in der Region wissenschaftlich tätig sind, indem sie zum Beispiel eine Forschungsstation einrichten oder eine Expedition durchführen. Dies erfordert natürlich Ressourcen, die oft nur reiche Länder aufbringen können, was dazu führt, dass das System ausgrenzend wirkt.

Flamm benennt zwei aktuelle Herausforderungen für die Antarktis. Die erste betrifft Verschiebungen in der Weltpolitik und internationale Konflikte, die sich in den geschützten Raum der antarktischen Diplomatie einschleichen. Das Auftauchen neuerer Akteure wie der asiatischen Länder, insbesondere Chinas, auf der globalen Bühne bedeutet, dass auch sie ein Mitspracherecht in antarktischen Angelegenheiten haben wollen. Gleichzeitig stellt die russische Invasion in der Ukraine eine Bedrohung für den antarktischen Exzeptionalismus dar – die größte Herausforderung seit den 1980er Jahren, wie Flamm argumentiert. Zum ersten Mal führt eine Konsultativpartei des Antarktisvertrags umfassend Krieg gegen eine andere. Auf der Konsultativtagung des Antarktisvertrags in Berlin, wenige Monate nach dem russischen Angriff im Februar 2022, sprach sich die Ukraine gegen die russische Invasion aus und wies darauf hin, dass diese auch eine Bedrohung für das ukrainische Antarktisprogramm darstelle.

Allgemeinere Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertragsparteien betreffen beispielsweise lebende Meeresressourcen wie Fisch und Krill. Es muss immer ein Gleichgewicht zwischen Erhaltung und vernünftiger Nutzung gefunden werden. Einige Länder würden gerne mehr fischen, zum Beispiel China, aber auch Neuseeland oder Norwegen.

Die zweite große Herausforderung ist natürlich die Klimakrise. „Der Antarktisvertrag stellt die Antarktis unter Schutz, um die lokale Umwelt zu schützen“, sagt Flamm, „aber aufgrund der Klimakrise geht die größte Bedrohung für die Umwelt in der Antarktis von der unbeständigen Dynamik des Erdsystems aus. Die Antarktis muss nicht nur in der Antarktis geschützt werden.“ Indem wir die Antarktis in den Mittelpunkt stellen, sehen wir stattdessen, dass überall auf dem Planeten Handlungsbedarf besteht. Die Herausforderung wird sein, sowohl das Erreichte zu schützen als auch ausreichende Anpassungen vorzunehmen, um die kommenden Krisen zu bewältigen. (ewa)

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