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Review

PRIF Jahresbericht 2024Gewalt beenden und Frieden sichern

Friedensgutachten 2024

Gewalt beenden und Frieden sichern

Cover des FGA: Ein grüner Punkt mit Schriftzug: 2024 Welt ohne Kompass / friedensgutachten.

Foto: Diesseits – Kommunikationsdesign, Düsseldorf

Das Konfliktgeschehen hat sich 2024 weltweit weiter verschärft: Der Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen droht zu einem regionalen Flächenbrand zu eskalieren, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dauert unvermindert an und bewaffnete Konflikte und Militärputsche destabilisieren Teile Westafrikas. Auch die Gefahr nuklearer Eskalation steigt weiter, während internationale Regeln und Institutionen der Friedenssicherung an Bindungskraft verlieren. Das Friedensgutachten 2024 nimmt zu diesen Entwicklungen Stellung und zeigt Lösungsansätze auf.

Vor dem Hintergrund der volatilen Weltlage empfehlen die Herausgeber*innen: Trotz sicherheitspolitischer Herausforderungen und notwendiger Verteidigungsmaßnahmen dürfen Friedensförderung, Entwicklungszusammenarbeit und zivile Konfliktbearbeitung nicht aus dem Blick geraten. Die eskalierende Gewalt muss kurzfristig eingedämmt und gleichzeitig der Weg für langfristige Friedensprozesse geebnet werden – im Nahen Osten, in der Ukraine und in Afrika. Die Bundesregierung sollte durch diplomatische Initiativen unabhängige völkerrechtliche Institutionen stärken und aktiv auf die Konfliktbeilegung hinwirken. Im Fokuskapitel widmet sich das Friedensgutachten ausführlich dem Krieg in Gaza und beleuchtet Möglichkeiten zur kurzfristigen Stabilisierung sowie langfristigen Friedensperspektiven.

Krieg zwischen Israel und Hamas

Seit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 herrscht Krieg im Gazastreifen. Die andauernden Kampfhandlungen haben verheerende humanitäre Folgen: Der Zugang zu Hilfsgütern ist stark eingeschränkt und ein Großteil der Infrastruktur ist zerstört.

Zugleich nahmen mit der Eskalation in Gaza auch andere Konflikte in der Region an Intensität zu, wie die Spannungen zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah. Parallel kam es in Syrien, im Irak, Jemen und der Meerenge Bab al-Mandab zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen US-amerikanischen und vom Iran unterstützten nichtstaatlichen Gruppen. Auch die Gewalt von israelischen Siedler*innen gegen Palästinenser*innen im Westjordanland hat zugenommen.

Die regionalen Mächte verfolgen dabei teils widersprüchliche Interessen. Während der Iran – der Israel im April 2024 erstmals direkt angriff – und seine Partner in der „Achse des Widerstands“ den Konflikt zur Stärkung ihrer Regimelegitimation nutzen, streben Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain oder Saudi-Arabien eine Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel an. Die Autor*innen warnen, dass der Krieg diese Annäherung auf eine harte Probe stellt und teils heftigen Widerspruch aus den lokalen Bevölkerungen hervorrufe.

Infobox

Das Friedensgutachten

Das Friedensgutachten erscheint seit 1987 jährlich und wird vom PRIF gemeinsam mit dem Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC), dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und dem Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen herausgegeben.

Wissenschaftler*innen dieser führenden deutschen Friedensforschungsinstitute untersuchen darin internationale Konflikte, zeigen Trends der internationalen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik auf und geben klare Handlungsempfehlungen für die Politik. Die Autor*innen arbeiten interdisziplinär an fünf wiederkehrenden Themenkapiteln: Bewaffnete Konflikte, Nachhaltiger Frieden, Rüstungsdynamiken, Institutionelle Friedenssicherung und Gesellschaftlicher Frieden. Das Friedensgutachten steht open access zur Verfügung.

Vor dem Hintergrund der regionalen Dynamik, den massiven Kriegsfolgen, der innerpalästinensischen Spaltung und der Machtverhältnisse in Israel scheinen die Chancen auf Frieden derzeit gering. Hinzu kommt, dass einige Merkmale des Konflikts dessen Bearbeitung vor besondere Herausforderungen stellen. Die asymmetrischen Gewalttaktiken von nichtstaatlichen Gruppen wie der Hamas erschweren einen militärischen Sieg. Zugleich genießt die Hamas Rückhalt in Teilen der Bevölkerung, während, andersherum, Verhandlungen mit nichtstaatlichen Gewaltakteuren als Belohnung für ihre Militanz gedeutet werden können. Gleichzeitig verdeckt die aktuelle Gewalt die tieferliegenden politischen Ursachen des israelisch-palästinensischen Konflikts. Zusätzlich verschärfen die Einbettung in regionale Ordnungsprozesse und die militärischen Unterstützungsleistungen durch Verbündete an beide Kriegsparteien die Dynamik.

Die Autor*innen betonen: Deutschland und die EU sollten sich zunächst auf eine kurzfristige Deeskalation und humanitäre Hilfe für Gaza konzentrieren, zugleich aber zivilgesellschaftliche Akteure auf beiden Seiten stärken und die Normalisierungsprozesse zwischen Israel und arabischen Staaten an die Aussicht auf einen palästinensischen Staat knüpfen.

Koordiniert wurde das Kapitel von Claudia Baumgart-Ochse. Von Seiten des PRIF waren außerdem Damaris Braun, Elisabeth Hoffberger-Pippan, Hanna Pfeifer, Regine Schwab und Irene Weipert-Fenner beteiligt.

Vier Personen stehen vor einer Wand mit dem Schriftzug Bundespressekonferenz. Sie halten die Ausgabe 2024 in den Händen

Foto: PRIF

Globales Konfliktgeschehen

Weitere Kapitel des Friedensgutachtens widmen sich dem andauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und zunehmenden bewaffneten Konflikten in Westafrika. Die Autor*innen heben die Notwendigkeit hervor, militärische Unterstützung für die Ukraine mit diplomatischen Bemühungen um Friedensverhandlungen zu verbinden.

Mit besonderer Sorge blicken sie auf das Risiko einer nuklearen Eskalation und empfehlen die Stärkung des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (auch Kernwaffenteststopp-Vertrag) sowie nachhaltiges Risikomanagement. Gleichzeitig mahnt das Gutachten, dass gestiegene Verteidigungsausgaben nicht auf Kosten anderer friedensrelevanter Politikfelder wie Klima- und Entwicklungspolitik steigen dürfen. So helfen beispielsweise die Aufrechterhaltung von Dialog und entwicklungspolitischer Zusammenarbeit, um wichtige zivilgesellschaftliche Partner*innen nicht zu verlieren und gemeinsam an Friedensstrategien arbeiten zu können.

Doch die Welt ist ohne Kompass, es fehlen zukunftsweisende Ideen, wie man die multiplen Krisen bearbeiten könnte.

Im abschließenden Kapitel widmet sich das Friedensgutachten 2024 dem innergesellschaftlichen Frieden in Deutschland. Es analysiert den wachsenden Einfluss autoritärer und extremistischer Gruppen sowie den Vertrauensverlust in demokratische und rechtsstaatliche Institutionen. Die Autor*innen plädieren dafür, gesellschaftliche Unzufriedenheit ernst zu nehmen und demokratische Defizite gezielt anzugehen – zugleich aber eine klare Abgrenzung gegenüber extremistischen Gruppierungen und Parteien zu wahren. Sie warnen vor der Normalisierung radikaler Rhetorik und Narrative und fordern eine rechtliche Absicherung unabhängiger Institutionen sowie eine umfassende Förderung politischer Bildung.

Interview mit Claudia-Baumgart-Ochse

Claudia Baumgart-Ochse

Dr. Claudia Baumgart-Ochse leitet den Programmbereich Transnationale Politik, ist Mitglied im PRIF-Vorstand und Redaktionsleiterin des jährlich erscheinenden Friedensgutachtens. Sie beschäftigt sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt sowie der Rolle von Religion, religiösen Normen und religiöser Praxis für die Transnationalisierung von Konflikten.

  1. Das Fokuskapitel legt den Schwerpunkt auf den andauernden Gaza-Krieg und empfiehlt, mittel- und langfristige Friedensperspektiven offenzuhalten. Wie können diese Friedensperspektiven politisch aussehen? Welche Chancen und Hindernisse gibt es für eine Konfliktlösung?

    Zunächst muss es darum gehen, den Krieg und die unerträgliche humanitäre Notlage im Gaza-Streifen zu beenden. Wir fordern im Fokuskapitel eine Waffenruhe, um die israelischen Geiseln zu befreien, palästinensische Zivilist*innen zu schützen und humanitäre Hilfe in den Gaza-Streifen zu bringen. Der nächste Schritt wäre dann, die Blockade des Gaza-Streifens zu beenden und eine Übergangsverwaltung zu organisieren, mit internationaler Hilfe. Und erst dann kann man über langfristige Friedensperspektiven sprechen, die Sicherheit für Israel und für die Palästinenser*innen gewährleisten. Die sogenannte Zweistaaten-Lösung wird ja nach wie vor von der internationalen Gemeinschaft gefordert, aber sie ist sehr voraussetzungsvoll, weil sehr schwierige Themen wie die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten oder die Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge verhandelt werden müssen. Um diese langfristige Perspektive dennoch offenzuhalten, ist es wichtig, dass Deutschland und die EU darauf dringen, dass Völkerrecht und Menschenrechte eingehalten werden – denn das ist ja aktuell nicht der Fall. Und Deutschland kann bei der Reform der Palästinensischen Autonomiebehörde helfen, sie kann Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und wirtschaftliche Verbesserungen fördern.

  2. Insgesamt zeichnet das Friedensgutachten ein ernüchterndes Bild der „Welt ohne Kompass“. Warum wurde dieses Bild gewählt? Wie können Deutschland und die EU diesen negativen Entwicklungen entgegenwirken?

    Wir beobachten, dass der Frieden in der Welt durch Krieg und Gewalt akut gefährdet ist, beispielsweise in Europa durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine oder im Nahen Osten durch den Krieg in Gaza und in Libanon und in Westafrika durch eine Serie von gewaltsamen Putschen. Dagegen sind Abrüstung und Rüstungskontrolle auf dem Rückzug, viele Staaten rüsten auf oder modernisieren ihre Bestände. Noch dazu sind langfristig auch die Grundlagen des Friedens bedroht – beispielsweise bleiben die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen weit hinter den Erwartungen zurück, etwa in den Bereichen Frieden und Armut; und der Kampf gegen den Klimawandel kommt nicht ausreichend voran. Doch die Welt ist ohne Kompass, es fehlen zukunftsweisende Ideen, wie man die multiplen Krisen bearbeiten könnte. Im Friedensgutachten empfehlen wir deshalb, sich neu auf ganz pragmatische Orientierungspunkte zu konzentrieren. Dazu zählen die grundlegenden Normen und Prinzipien aus dem Völkerrecht und die Regeln und Verfahren der multilateralen Zusammenarbeit. Außerdem sollten Deutschland und die EU versuchen, Rivalitäten durch Rüstungskontrolle und gemeinsames Risikomanagement einzudämmen. Und schließlich: In Konfliktsituationen, die scheinbar keine schnelle Aussicht auf Frieden versprechen, sollten dennoch Verhandlungen vorbereitet und Sicherheitsgarantien angeboten werden – beispielsweise für die Ukraine. (hfr)