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Review

PRIF Jahresbericht 2024Heute forschen für die Rüstungskontrolle der Zukunft

Naturwissenschaftliche Friedensforschung

Heute forschen für die Rüstungskontrolle der Zukunft

Illustration der Arbeitsschritte nuklearer Archäologie wie Computersimulation oder Recherche

Bild: Elisabeth Waczek/PRIF

Was kann die Physik zur Überwindung von nuklearen Bedrohungen beitragen? Die 2024 neu ins Leben gerufene Forschungsgruppe Science for Nuclear Diplomacy forscht zu den technischen Grundlagen für eine nukleare Rüstungskontrolle der Zukunft. Denn damit irgendwann neue Rüstungskontrollabkommen geschlossen werden können, braucht es nicht nur den politischen Willen, sondern auch überzeugende Konzepte zur Verifikation. Die Gruppe wird geleitet von Malte Göttsche, Professor für naturwissenschaftliche Friedensforschung an der TU Darmstadt, und ist am PRIF sowie in Darmstadt angesiedelt.

Die Rüstungskontrolle, so wird immer wieder betont, steckt in einer tiefen Krise. Schon seit Jahren befindet sich die bilaterale Rüstungskontrollarchitektur zwischen den USA und Russland (früher der Sowjetunion) im Niedergang. Die russische Vollinvasion der Ukraine hat diese Krise zusätzlich verschärft und die nuklearen Drohgebärden Russlands in diesem Zuge haben die Angst vor einem Atomwaffeneinsatz für viele Menschen wieder ins Bewusstsein gebracht. Neue Rüstungskontrollabkommen scheinen in der aktuellen geopolitischen Situation alles andere als wahrscheinlich und Abrüstung noch viel weniger.

Trotz dieser düsteren Lage ist es wichtig, gerade jetzt über Verifikation zu sprechen und an neuen Verifikationsmöglichkeiten zu forschen. Verifikation, also Maßnahmen, um die Einhaltung von Verträgen zu überprüfen, ist ein elementarer Bestandteil der Rüstungskontrolle. Sie schreckt nicht nur vor Vertragsbrüchen ab, sondern stärkt auch das Vertrauen der Vertragsteilnehmer ineinander. Ohne konkrete, erprobte und transparente Verifikationsverfahren ist nicht gewährleistet, dass Verträge wirklich wirksam sind – und der Anreiz, die Verträge überhaupt zu unterzeichnen, dürfte deutlich geringer sein. Damit es also überhaupt eine Chance gibt, die Krise der Rüstungskontrolle zu überwinden, muss bereits jetzt an der Verifikation für die Rüstungskontrollabkommen der Zukunft geforscht werden.

Diese Mission hat sich die 2024 neu ins Leben gerufene Forschungsgruppe Science for Nuclear Diplomacy auf die Fahnen geschrieben. Die Gruppe unter der Leitung von Prof. Malte Göttsche ist am PRIF und an der TU Darmstadt angesiedelt und ist Teil des Clusters Natur- und Technikwissenschaftliche Rüstungskontrollforschung (CNTR).

Ein zentraler Forschungsbereich der Gruppe ist die sogenannte Nukleare Ärchaologie. Dahinter steckt die Idee, Verifikationsverfahren zu entwickeln, die nicht die Atombomben selbst in den Blick nehmen, sondern die zu ihrer Produktion benötigten Kernmaterialien. Atomare Sprengköpfe sind nicht sonderlich groß und lassen sich überall verstecken. Ein Land so zu durchsuchen, dass man sicher sein kann, dass dort keine atomaren Sprengköpfe vorhanden sind, ist quasi unmöglich. Aber die Herstellung der Kernmaterialien, die man für die Produktion von Atomwaffen braucht, lässt sich beobachten. Bisher sind Spaltmaterialien in Abrüstungsverträgen nie effektiv reguliert worden, auch wenn es bereits Diskussionen darüber gab, beispielsweise um den vorgeschlagenen Fissile Material Cut-off Treaty (FMCT).

Damit man Kernwaffen überhaupt herstellen kann, benötigt man Plutonium oder hochangereichertes Uran – Stoffe, die so in der Natur nicht vorkommen. Um waffenfähiges Uran zu erhalten, muss das natürliche Uran – in der Regel in einer Zentrifuge – „angereichert“, d. h. das gewünschte Isotop von anderen Isotopen getrennt werden. Plutonium wiederum entsteht als (Neben-)Produkt in Kernkraftwerken. Um waffenfähiges Material zu erhalten, müsste es anschließend noch von anderen Nebenprodukten getrennt werden.

Diese Produktionsprozesse hinterlassen in den Kernreaktoren und Zentrifugen Spuren – Spuren, die von der nuklearen Archäologie freigelegt werden. Wie in der klassischen Archäologie Spuren, die bei Ausgrabungen gefunden werden, genutzt werden, um Rückschlüsse über vergangenes menschliches Leben zu treffen, so nutzt die nukleare Archäologie Spuren, um zu rekonstruieren, was an Kernmaterialien produziert oder verbraucht wurde. Auf dieser Grundlage lassen sich Aussagen darüber treffen, ob die Angaben, die ein Staat gemacht hat, richtig oder falsch sind.

Der Betrieb von Anreicherungsanlagen alleine reicht noch nicht aus, um einen Verdacht zu begründen. Angereichertes Uran wird auch für eine Reihe von zivilen Einsatzmöglichkeiten von Kernreaktoren benötigt, so nicht nur zur Erzeugung von Strom, sondern auch beispielsweise in der Forschung oder in der Medizin. Anreicherungsanlagen und Kernkraftwerke haben also einen sogenannten Dual-Use-Charakter: Sie lassen sich für friedliche, zivile Zwecke nutzen, können aber auch für militärische Zwecke, in diesem Fall zur Herstellung von Atomwaffen, verwendet werden. Insofern besteht das Problem, dass sich diese Anlagen nicht einfach verbieten lassen, wenn doch ihre friedliche Nutzung erlaubt ist.

Verschiedene Projekte in der Forschungsgruppe Science for Nuclear Diplomacy beschäftigen sich daher damit, wie Verfahren geschaffen werden können, die eine friedliche Nutzung von der Nutzung zur Herstellung von Atomwaffen unterscheiden können.

Fabian Unruh forscht zur Zusammensetzung abgebrannter Brennstäbe. In kommerziellen Kernreaktoren werden Brennstäbe aus natürlichem oder leicht angereichertem Uran verwendet. Wenn die gewünschte Energie gewonnen wurde, bleiben abgebrannte Brennstäbe übrig. Die bestehen dann immer noch zu circa 90 Prozent aus Uran, aber auch zu je ein paar Prozenten aus Plutonium und Spaltprodukten. Bei diesen Spaltprodukten kann es sich um viele verschiedene Elemente in allen möglichen Konfigurationen handeln. Die Zusammensetzung ist sehr divers und unterscheidet sich aufgrund einiger Faktoren, beispielsweise des Reaktortyps, der Zeit, wie lange der Brennstoff im Reaktor war, und wie viel Zeit vergangen ist, seit er herausgeholt wurde, da radioaktive Zerfälle stattfinden. Sie bildet damit eine Art „Signatur“ des Reaktors und des Reaktorbetriebs. Je nachdem, auf welche Art und Weise der Reaktor betrieben wird, ändert sich auch die Menge an Plutonium, die produziert wird. Mit der Messung der Spaltprodukte, kann man Rückschlüsse darauf ziehen, wie viel Plutonium produziert wurde. Dieser Wert lässt sich dann mit den Angaben des Reaktorbetreibenden vergleichen – und somit verifizieren, ob die gemachten Angaben tatsächlich stimmen oder ob mehr Plutonium produziert wurde als die deklarierte Menge.

Solche Messungen würde man im tatsächlichen Fall durchführen, indem man die Elemente in den abgebrannten Brennstäben isoliert und mithilfe von Massenspektrometrie nach Masse „sortiert“ – so lässt sich die Zusammensetzung nach unterschiedlichen Isotopen bestimmen. Eine weitere wichtige Methode für die Forschungsgruppe ist aber auch, den Betrieb von Reaktoren am Computer zu simulieren. Dabei handelt es sich um statistische Simulationen: Sie zeigen, was wahrscheinliche Ergebnisse bestimmter Parameter im Reaktorbetrieb sind. Da sie aber keine deterministischen Berechnungen sind, lassen sie sich nicht ohne weiteres umkehren. Der Rückschluss von einer Zusammensetzung von Isotopen auf den Betrieb des Reaktors ist also ein komplexeres Problem, für das es unterschiedliche Ansätze gibt, die ebenfalls von der Gruppe erforscht werden. Neben Messungen und Computersimulationen, ist ein weiterer Bestandteil der nuklearen Archäologie die Arbeit mit Archiven, in denen Aufzeichnungen zu Reaktorbetrieben eingesehen werden können.

Während sich Fabian Unruh mit den abgebrannten Brennstäben beschäftigt, widmet sich das Projekt von Lukas Rademacher den festen Bauteilen des Reaktors. Das können z. B. Rohre oder Graphit-Moderatoren sein. Ein Moderator ist ein Bestandteil des Reaktors, der unterstützt, dass die Neutronen, die bei der Kernspaltung frei werden, die nächste Spaltung auslösen. Neben Graphit wird häufig auch Wasser als Moderator eingesetzt. Allerdings hinterlässt der Reaktorbetrieb im Wasser weniger Spuren als in Graphit, weshalb es sich schlechter als Beobachtungsobjekt eignet. Diese festen Bauteile reagieren auf Dauer mit den bei der Kernspaltung freiwerdenden Neutronen, die absorbiert werden oder Reaktionen auslösen. Welche Reaktionen stattfinden und in welchem Maße, das hängt davon ab, was genau in dem Reaktor passiert. Auch hier lässt sich also, ähnlich wie beim Brennstoff, eine „Signatur“ der Produktionsprozesse ablesen.

Auch Anreicherungsanlagen könnten in ähnlicher Weise analysiert werden. Da sie jedoch weniger ausgeprägte Signaturen haben, ist das deutlich schwieriger. Weitere Ansatzpunkte für die nukleare Archäologie können auch Brennstoffkreisläufe sein, das bedeutet, es wird nicht nur eine einzelne Anlage betrachtet, sondern das gesamte Atomprogramm eines Staates mit Reaktoren, Quellen von Natururan, also Minen, und zwischengeschalteten Anlagen, die aus den Produkten der Mine Uran herstellen. So lässt sich z. B. untersuchen, wie viel Plutonium oder hochangereichertes Uran ein Staat mit den Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen, in einem bestimmten Zeitraum produzieren könnte.

Die Mitglieder der Forschungsgruppe arbeiten alle zu einzelnen Aspekten möglicher neuer Verifikationsmethoden. Die Idee ist aber, dass sich aus diesen vielen einzelnen Punkten irgendwann ein gemeinsames Bild ergibt. In der Praxis könnte man diese Methoden dann kombinieren, um ein aussagekräftiges und robustes Verifikationsprogramm zu entwickeln, das Vertrauen in die Vertragspartner und die Einhaltung der Verträge schaffen und damit die technischen Voraussetzungen für eine Rüstungskontrolle der Zukunft liefern kann. (ewa)

Infobox

Über die Forschungsgruppe Science for Nuclear Diplomacy

Über den Bereich Nukleare Archäologie hinaus setzt die Forschungsgruppe Science for Nuclear Diplomacy modernste Computersimulationen ein, um einen Beitrag zu den Bereichen Nichtverbreitung und Abrüstung von Kernwaffen zu leisten. Ein Schwerpunkt liegt auf der Schätzung der vergangenen und aktuellen Produktion von waffenfähigem Material in Kernwaffenstaaten, um dieses Wissen öffentlich zugänglich zu machen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Entwicklung von Instrumenten und Methoden, die für die Verifikation verwendet werden können, also für die Bewertung der Einhaltung internationaler Nuklearabkommen durch Inspektionen und Überwachung. Konkret entwickelt die Gruppe neuartige Verifizierungsansätze für die Nichtverbreitung auf der Grundlage von Strahlungsmessungen, wobei sie modernste Techniken aus der Physikforschung einsetzt. Darüber hinaus untersucht sie, wie der Prozess des Abbaus von Kernwaffen verifiziert werden kann. Bei all ihren Arbeiten geht die Gruppe disziplinübergreifend vor und bezieht auch die Sozialwissenschaften mit ein.