Wie bewerten Menschen vor Ort Interventionen?

Foto: Simone Schnabel
Afrikanische Regionalorganisationen wie die Afrikanische Union (AU) oder die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) sind zentrale Akteure der Friedenssicherung und Konfliktbearbeitung. Ein DFG-gefördertes Projekt der Forschungsgruppe African Intervention Politics hat untersucht, wie die lokale Bevölkerung die Regionalorganisationen und ihre Interventionen erlebt und bewertet. Im Jahr 2024 fanden zahlreiche Transferaktivitäten zu den Ergebnissen des Projekts statt.
Im Gespräch mit Antonia Witt und Sophia Birchinger

Dr. Antonia Witt ist Leiterin der Forschungsgruppe African Intervention Politics im Programmbereich Glokale Verflechtungen.

Sophia Birchinger ist Doctoral Researcher im Programmbereich Glokale Verflechtungen und in der Forschungsgruppe African Intervention Politics.
In eurem Projekt habt ihr lokale Wahrnehmungen der Interventionen von AU und ECOWAS in Burkina Faso und Gambia untersucht. Beide Organisationen haben den Anspruch, dass sie menschenzentriert („people-centered“) agieren, es soll z. B. lokale „ownership“ für die Interventionen geben und sie sollen inklusiv sein. Gelingt es den Organisationen, diesem Anspruch gerecht zu werden?
Antonia Witt: In dieser Form gelingt es ihnen nicht. Wir haben gesehen, dass die Forschungsteilnehmenden AU und ECOWAS als Organisationen wahrnehmen, die sehr stark an den Interessen von Staatschefs orientiert sind. Im frankophonen Westafrika ist der Ausdruck „syndicats des chefs d’État“, also die Gewerkschaften der Staatschefs, sehr weit verbreitet. Dieses dominante Bild der Organisationen hat sich auch durch die Interventionserfahrungen nicht sonderlich verändert.
Und woran liegt das?
Sophia Birchinger: Die Menschen erleben die Interventionen zunächst als sehr weit weg von ihrem Alltag und verbinden sie vor allem mit Verhandlungen zwischen Präsidenten oder Mediationsversuchen auf politischer Ebene. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es lokal eine Wertschätzung dafür gibt, dass die Organisationen in Krisensituationen intervenieren und das „normale Leben“, wie es oft genannt wird, wiederherstellen.
Antonia Witt: Die primären Ziele der Interventionen sind auf die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung konzentriert. Dementsprechend sind auch die Praktiken der Intervenierenden auf einen Machtausgleich zwischen den Eliten der Länder ausgerichtet. Aber wir können in unserer Forschung zeigen, dass die Interventionen dennoch sehr positive Effekte auf das alltägliche Leben derjenigen haben können, die nicht direkt eingebunden sind. Darauf gründet sich dann auch diese Wertschätzung.
Wie kamt ihr dazu, lokale Wahrnehmungen dieser Interventionen von afrikanischen Akteuren zu untersuchen? Welche Forschungslücke gab es hier?
Antonia Witt: Der Hintergrund ist zunächst, dass afrikanische Regionalorganisationen wie AU und ECOWAS verstärkt Friedensmissionen in ihre Mitgliedsstaaten entsenden. Das spiegelt globale Machtverschiebungen wider und die zunehmend wichtige Rolle von Regionalorganisationen in der internationalen Friedenssicherung. Die Interventionsforschung konzentriert sich aber weiterhin sehr stark auf die Vereinten Nationen oder westliche Intervenierende. Das ist besonders sichtbar in der Forschung zu den lokalen Auswirkungen und gesellschaftlichen Reaktionen in Ländern, in denen Interventionen stattfinden. Es gibt dazu einen großen Forschungsstrang. Aber für afrikanische Interventionen wurde diese Frage nicht gestellt. Der Grund dafür ist eine zumeist implizite, aber sehr weit verbreitete Annahme, dass afrikanische Intervenierende per se Legitimität besitzen, einfach weil sie afrikanisch sind, und sich bestimmte Legitimitätsprobleme von Interventionen gar nicht erst stellen. Diese Vorstellung zeichnet ein problematisches Bild, das afrikanische Interventionen und afrikanische Akteure insgesamt depolitisiert. Deswegen wollten wir dieser Frage genauer nachgehen.
Wie seid ihr dafür vorgegangen?
Antonia Witt: Wir haben zwei Fälle untersucht, in denen AU und ECOWAS als Reaktion auf politische Krisen interveniert haben: in Burkina Faso 2014/15 und in Gambia 2016/17. In Burkina Faso wurden ausschließlich nicht-militärische Mittel eingesetzt, also Mediation, Verhandlungen und auch Androhungen von Sanktionen. In Gambia waren diese nicht-militärischen Mittel noch gestützt von einer militärischen Mission, die bis heute im Land stationiert ist. Damit konnten wir in diesen beiden Fällen auch das Spektrum der verschiedenen Instrumente abbilden, die afrikanische Intervenierende verwenden, um auf solche Situationen zu reagieren.
„Der kollaborative Forschungsansatz war besonders wichtig, um im Forschungsteam verschiedene Perspektiven zusammenzubringen, andere Fragen zu stellen und mehr Facetten der komplexen Interventionslogiken und ihrer lokalen Bedeutungszuschreibung überhaupt sehen zu können.“
Sophia Birchinger
Sophia Birchinger: In beiden Ländern haben wir einen ethnographischen Ansatz verfolgt, das bedeutet längere Forschungsphasen mit teilnehmender Beobachtung. Wir haben 21 Fokusgruppen und circa 150 Interviews durchgeführt. Dabei haben wir nicht nur mit Eliteakteuren gesprochen, sondern vor allem mit ganz normalen Bürger*innen, auch aus marginalisierten Stadtteilen und ländlichen Gebieten. Zudem haben wir einen kollaborativen Forschungsansatz verfolgt. Das heißt, wir haben in einem internationalen Team mit Wissenschaftler*innen aus beiden Ländern den ganzen Forschungsprozess gemeinsam durchgeführt – von der Operationalisierung der Forschungsfrage und der Herangehensweise an den konkreten Fall über die Durchführung von Fokusgruppen und Interviews, bis hin zur Datenanalyse. Daraus sind auch gemeinsame Publikationen entstanden. Dieser kollaborative Ansatz war besonders wichtig, um im Forschungsteam verschiedene Perspektiven zusammenzubringen, andere Fragen zu stellen und mehr Facetten der komplexen Interventionslogiken und ihrer lokalen Bedeutungszuschreibung überhaupt sehen zu können.
Teil eures kollaborativen Ansatzes waren auch gemeinsame Veranstaltungen, um mit verschiedenen Akteuren in den erforschten Ländern über eure Ergebnisse zu sprechen. Welche Rolle spielt diese Form des Wissenstransfers für euch?
Antonia Witt: Diese Forschung basiert ja sehr stark auf Interpretationen und Erfahrungen der Forschungsteilnehmenden. Wir wollten explizit nicht mit einem extraktivistischen Ansatz arbeiten, der Wissen quasi „absaugt“ und allein für wissenschaftliche Zwecke verarbeitet. Im Gegenteil war es uns wichtig, das, was wir an Interpretation aus dem mit uns Geteilten ziehen, auch wieder zurückzuspielen, weil es auch Teil des gesellschaftlichen Verarbeitungsprozesses ist, der in den Ländern stattfindet. Im Übrigen haben uns die Forschungsteilnehmenden selbst auch immer wieder gebeten zurückzukommen, damit sie von den Ergebnissen erfahren können, und sie haben sich explizit gewünscht, dass wir auch mit Akteuren der AU und ECOWAS darüber sprechen. Im Sommer letzten Jahres haben wir deshalb verschiedene Beratungs- und Austauschevents mit Verantwortlichen der ECOWAS und anderen politischen Akteuren in Abuja abgehalten: z. B. Vertreter*innen internationaler Geber, Partnern der ECOWAS, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Young Leaders. Wir sprechen hier also von zwei sehr unterschiedlichen Formaten von Wissenstransfer: einerseits Diskussion mit den Forschungsteilnehmenden und das Zurückspielen unserer Interpretation und andererseits das gezielte Kommunizieren von Handlungsempfehlungen an politische Entscheidungsträger*innen. Neben den Akteuren vor Ort waren das z. B. auch Ministerien in Deutschland.
Sophia Birchinger: Gerade die Diskussion der Ergebnisse mit den Forschungsteilnehmenden war sehr gewinnbringend und ein wichtiger Teil des Forschungsprozesses, weil auch die Beobachtungen dieser Veranstaltungen in spätere Publikationen wieder einfließen konnten.
Welche Erfahrungen habt ihr bei diesen Veranstaltungen gemacht, wenn ihr eure Forschungsergebnisse präsentiert habt? Und was waren die Unterschiede zwischen den Veranstaltungen mit Forschungsteilnehmenden und den Vertreter*innen der Organisationen?
Sophia Birchinger: Zunächst wurde von allen Diskussionsteilnehmer*innen, ob Bürger*innen oder Entscheidungsträger*innen, die Relevanz unserer Forschung bestätigt. Sei es, weil sie bestimmte Erfahrungen, Perspektiven und Konflikte um Interventionen sichtbar macht, oder weil sie Handlungsempfehlungen generiert, wie gerade diese Konflikte in Zukunft zumindest geringer gehalten werden können.
„Wir wollten explizit nicht mit einem extraktivistischen Ansatz arbeiten, der Wissen quasi „absaugt“ und allein für wissenschaftliche Zwecke verarbeitet.“
Antonia Witt
Antonia Witt: In den Diskussionen hat sich bestätigt, was wir auch in unserer Forschung schon gesehen haben, dass es sehr weitreichende Erwartungen daran gibt, was ECOWAS tun sollte. Auf der anderen Seite sehen wir, dass bei ECOWAS zunehmend die Notwendigkeit gesehen wird, sich den Menschen und gesellschaftlichen Stimmungen zu öffnen. Aber gleichzeitig gibt es eine viel stärkere Betonung auf die Grenzen dessen, was die Organisation überhaupt leisten kann, aufgrund ihres Mandats und zwischenstaatlichen Charakters, also ein wesentlich pragmatischerer Blick. Das ist genau der Kern dessen, was wir untersuchen: Gesellschaftlich gibt es ganz große Erwartungen an grundsätzliche Transformationen und einfach ein besseres Leben. Die Regionalorganisationen versprechen zwar, das zu bringen, sind aber nur bedingt in der Lage, das auch einzulösen. Interessanterweise spielen wir auch unterschiedliche Rollen in den Veranstaltungen. Im Wissenstransfer mit Forschungsteilnehmenden sind wir eher diejenigen, die beobachten, während wir bei den Entscheidungsträger*innen die Rolle der Sprecher*innen übernehmen. Auch hier kommt unser kollaborativer Ansatz wieder ins Spiel: Durch unser plurales Forschungsteam fühlte es sich wesentlich legitimer an, diese Sprecher*innen-Rolle wahrzunehmen, weil wir zusammen immer verschiedene Blickwinkel gleichzeitig einbringen können.
Konntet ihr daraus auch neue Impulse für eure Forschung mitnehmen?
Antonia Witt: Eigentlich ist es so eine Art Forschungszyklus. Sowohl aus den Gesprächen mit den politischen Entscheidungsträger*innen als auch aus den Gesprächen mit den Forschungsteilnehmenden nehmen wir wieder neue Fragen für anschließende Forschungsprojekte mit.
Sophia Birchinger: Beispielsweise geht mein Promotionsprojekt zu Wahrnehmungen von Zwang in Interventionen, an dem ich aktuell arbeite, auf Impulse zurück, die wir beim Austausch vor Ort bekommen haben.
Antonia Witt: Seit Beginn unserer Forschung ist einiges in der Region passiert: die Putsche in Westafrika, unter anderem auch in Burkina Faso, der gesellschaftliche Backlash, den vor allem die ECOWAS erlebt, und der Abzug der französisch geführten Operation Barkhane und der UN-Mission aus der Sahelzone. Damit ist die Bedeutung gesellschaftlicher Wahrnehmungen noch einmal viel präsenter geworden. Es wäre jetzt interessant zu schauen, wie sich bestimmte Narrative festgesetzt haben, auch die Frage, welche Rolle externe Akteure spielen. Auch das sind Fragestellungen, die wir aus den Diskussionen der Ergebnisse mitgenommen haben, weil die eben zu einer Zeit stattfanden, in der bereits eine neue Krise und eine neue ECOWAS-Intervention stattfand.
Ein weiterer Ansatzpunkt für künftige Forschung ist die Rolle der lokalen Repräsentationen von AU und ECOWAS. Diese zu stärken war eine der Handlungsempfehlungen, die wir aus dem Projekt entwickelt haben. Das untersucht jetzt Hilda Milka Koiyer in einem am PRIF angesiedelten Teilprojekt des ANCIP-Netzwerks. (ewa)

Team-Mitglieder (von links nach rechts) Sophia Birchinger, Amado Kaboré, Antonia Witt und Sait Matty Jaw nach ihrem Treffen in der ECOWAS-Kommission mit u. a. Cyriaque Agnekethom, ECOWAS-Direktor für Friedenssicherung und regionale Sicherheit, und Habibu Yaya Bappah, Assistent des Präsidenten der ECOWAS-Kommission.
Foto: PRIF
Weiterlesen
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Witt, Antonia/Bah, Omar M/Birchinger, Sophia/Jaw, Sait Matty/Schnabel, Simone: How African Regional Interventions are Perceived on the Ground: Contestation and Multiplexity, in: International Peacekeeping, 31(1), 2024, 58–86.
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Birchinger, Sophia/Jaw, Sait Matty/Bah, Omar M/Witt, Antonia: “Siding with the People” or “Occupying Force”? Local Perceptions of African Union and ECOWAS Interventions in The Gambia, PRIF Report 3/2023, Frankfurt/M.
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Schnabel, Simone/Witt, Antonia/Konkobo, Adjara: The “Clubs of Heads of State” from Below. Local Perceptions of the African Union, ECOWAS and their 2014/15 Interventions in Burkina Faso, PRIF Report 14/2022, Frankfurt/M.
Über das Projekt
Das Forschungsprojekt „Lokale Wahrnehmungen regionaler Interventionen: AU und ECOWAS in Burkina Faso und Gambia“ wurde von 2020–2024 unter Leitung von Antonia Witt durchgeführt. Zum Team gehörten Omar M. Bah, Sophia Birchinger, Sait Matty Jaw, Amado Kaboré, Pascaline Kaboré, Adjara Konkobo, Karamba Jallow, Simone Schnabel und Antonia Witt. Das Projekt wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.