Zum Inhalt springen
Review

PRIF Jahresbericht 2024Wie Kontrollinstitutionen scheitern

„Kriege gegen Drogen“ in Brasilien und den Philippinen

Wie Kontrollinstitutionen scheitern

Menschen protestieren vor dem philippinischen Generalkonsulat mit Plakaten

Foto: Vocal-NY, flickr, CC BY 2.0

Unter den Präsidenten Michel Temer und Jair Bolsonaro in Brasilien und dem Präsidenten Rodrigo Duterte in den Philippinen kam es zu einem dramatischen Anstieg in der Anwendung tödlicher Polizeigewalt. Wie konnte das passieren? Beide Länder sind Demokratien und haben mit Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung eigentlich Mechanismen, um exzessive Polizeigewalt einzuhegen. Ein durch die DFG gefördertes Forschungsprojekt hat Polizeigewalt auf den Philippinen und in Brasilien im Vergleich untersucht. Dabei konzentrierten sich die Forscher*innen auf die Rolle der politischen Eliten. Die Ergebnisse geben Aufschluss darüber, welche Faktoren dafür sorgen können, dass demokratische Kontrollinstitutionen versagen.

Im Februar 2018 ordnete der brasilianische Präsident Michel Temer eine Militärintervention in Rio de Janeiro an und übertrug einem Armeegeneral die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit. Die Intervention, die als Antwort auf organisierte Kriminalität dargestellt wurde, führte zu einem 35-prozentigen Anstieg der Tötungen durch die Polizei in diesem Bundesstaat. Darüber hinaus gab es zahlreiche Berichte über Misshandlungen. Anstatt Ordnung wiederherzustellen, eskalierte die Operation die Gewalt in armen Bevölkerungsgruppen. Trotzdem lobte Temer den Einsatz als Erfolg und bekräftigte damit die Militarisierung der Polizeiarbeit.

Im Februar 2020 meldete die Polizei in der philippinischen Provinz Bulacan mehrere gewalttätige Auseinandersetzungen, bei denen sechs Drogenhändler getötet wurden. Berichten zufolge wurden Drogen und Waffen sichergestellt. Später stellte sich allerdings heraus, dass die betreffenden Personen bereits Tage zuvor ohne Haftbefehl festgenommen, in Polizeigewahrsam gehalten und dann paarweise in abgelegene Gebiete gebracht und dort hingerichtet wurden. Was ursprünglich als Selbstverteidigung ausgegeben wurde, entpuppte sich als vorsätzliche Tötung durch die Polizei.

Diese beiden Beispiele verdeutlichen die tödlichen Folgen, die nationale „Kriege gegen Drogen“ haben können – von politischen Maßnahmen auf höchster Ebene bis hin zu den Handlungen einfacher Beamter auf der Straße.

Dieses Muster exzessiver und nicht selten außergerichtlicher Tötungen bildet den Hintergrund für die zentrale Frage des Projekts: Inwieweit können andere politische Akteure solche Gewalt verhindern oder zumindest eindämmen, wenn sie dabei gegen einen Präsidenten arbeiten, der Verfassungsnormen und Rechtsstaatlichkeit offen missachtet oder aushöhlt?

Dramatischer Anstieg der Tötungen durch die Polizei

Selbst vor dem Aufstieg dieser Hardliner wiesen Brasilien und die Philippinen deutlich höhere Raten an Polizeigewalt auf als ihre Nachbarländer. Während die brasilianische Polizei zwar schon seit langem für ihre Brutalität bekannt war, haben die Tötungen seit 2016 weiter zugenommen. Auch auf den Philippinen waren die Tötungen durch die Polizei nicht neu, stiegen allerdings seit dem ersten Tag von Dutertes Amtszeit dramatisch an. Wie konnte das passieren?

Ein Großteil der bestehenden Forschung zu exzessiver Polizeigewalt erklärt diese entweder durch äußere Bedingungen – beispielsweise Armut oder hohe Kriminalitätsraten in bestimmten Regionen – oder durch interne Probleme innerhalb der Polizeiorganisationen. Letzteres umfasst zum Beispiel die Organisationskultur oder spezifische Strategien der Verbrechensbekämpfung. Diese Faktoren erklären jedoch nicht den plötzlichen Anstieg der Tötungen, der eindeutig durch Veränderungen in der nationalen Politik ausgelöst wurde.

In beiden Ländern korrelierte der Anstieg tödlicher Polizeigewalt mit den Amtszeiten von Präsidenten, die sich einer populistischen harten Anti-Verbrechens-Rhetorik bedienten und explizit Unterstützung oder Toleranz für tödliche Polizeigewalt signalisierten. Unter dem brasilianischen Präsidenten Michel Temer stieg die Zahl der Fälle tödlicher Polizeigewalt um 125 Prozent, was im Jahr 2018 über 5.000 Opfer bedeutete. Unter dem nachfolgenden Präsidenten Jair Bolsonaro setzte der Trend sich weiter fort und kostete über 6.000 Menschen jährlich das Leben. Auf den Philippinen war die Eskalation noch dramatischer: In den ersten sechs Monaten von Dutertes Amtszeit wurden über 2.400 Menschen durch die Polizei getötet – eine 20-fache Steigerung im Vergleich zu den Jahren zuvor.

Foto von Müttern und Angehörigen von jungen Schwarzen Männern, die in Brasilien gegen Polizeigewalt protestieren

Rio de Janeiro, 2017: Mütter und Angehörige von jungen Schwarzen Männern, die von der Polizei getötet wurden, protestieren gemeinsam mit Aktivist*innen gegen Polizeigewalt.

Foto: Agência Brasil Fotografias, Wikimedia Commons

Ausgehend von diesen politischen Veränderungen analysierten Peter Kreuzer und Ariadne Natal die Rolle der nationalen und lokalen Eliten – sowohl in Politik als auch Verwaltung – als Ermöglicher der nachfolgenden Gewaltwellen.

Ungeschriebene Regeln der Härte

Zwar sind Brasilien und die Philippinen Demokratien, allerdings werden sie in internationalen Indizes oft als „defizitäre Demokratien“ eingestuft. Nichtsdestotrotz sind formelle institutionelle Mechanismen vorhanden, die exzessive Machtausübung durch die Exekutive eigentlich in Schach halten sollen. Die zentrale Frage ist, ob diese Mechanismen funktioniert haben – und wenn nicht, wieso sie die Gewalt nicht verhindern, verringern oder beenden konnten.

Um das zu untersuchen, haben Peter Kreuzer und Ariadne Natal den Blick auf das Zusammenspiel zwischen formellen und informellen Institutionen gerichtet.

Formelle Institutionen – Gesetze, Regulierungen und Verfassungsnormen – bestimmen den rechtlichen Rahmen einer Gesellschaft. Sie legen fest, wie sich Menschen und auch staatliche Einrichtungen zu verhalten haben. Ihre Wirksamkeit hängt jedoch von der Bereitschaft der Machthaber ab, sie durchzusetzen und zu befolgen. An dieser Stelle kommen informelle Institutionen ins Spiel.

„Informelle Institutionen sind geteilte soziale Normen, die beeinflussen, wie Menschen Ereignisse interpretieren und auf sie reagieren. Sie entstehen und entwickeln sich durch Interaktionen und gemeinsame Erwartungen und können formale Regeln entweder unterstützen, ergänzen oder untergraben. Im Gegensatz zu Gesetzen sind sie ungeschrieben und werden durch gegenseitiges Verständnis aufrechterhalten. Das macht sie sowohl mächtig als auch schwer fassbar“, erklärt Peter Kreuzer.

Sowohl in Brasilien als auch auf den Philippinen schreiben formelle Institutionen vor, dass die polizeiliche Drogenbekämpfung den gesetzlichen Normen entsprechen muss. Allerdings wurden diese Regeln durch die zunehmende Verbreitung informeller Normen untergraben, die von nationalen Machthabern propagiert wurden. Während seiner Präsidentschaftskampagne erklärte Duterte berüchtigterweise: „Vergesst die Menschenrechte… Ich werde euch töten. Ich werde euch alle in die Bucht von Manila werfen und die Fische mästen.“ Nach seinem Amtsantritt sagte er, er würde mit Freuden drei Millionen Drogenabhängige „abschlachten“. Er schlug sogar vor, Tatverdächtigte, die sich ergeben, dazu zu bringen, weiter zu kämpfen, indem man ihnen geladene Waffen aushändigte. Diese informellen Aufrufe zur Gewalt wurden in der Polizeihierarchie übernommen. Ein Polizeidirektor aus einer Provinz verglich die Drogenkampagne mit der Bekämpfung des Dengue-Fiebers und rechtfertigte die Tötungen, indem er Drogenverdächtige mit Moskitos verglich.

Duterte und andere haben eine bisher unbedeutende informelle Institution gestärkt: eine Reihe von Normen und Regeln, die mit den formalen Rechtsnormen konkurrierten. Dieses Narrativ einer existenziell bedrohten Nation, das angeblich illegale Gewalt rechtfertigte, gewann an Legitimität, als klar wurde, dass die Kampagne breite öffentliche Unterstützung hatte.

Aushebelung der Kontrolle

Das Entscheidende ist, dass die formellen Aufsichtsorgane – von der Legislative bis zur Staatsanwaltschaft – passiv oder mitschuldig blieben. Ermittlungen gegen polizeiliches Fehlverhalten waren selten. Auch stellten diese Institutionen trotz des dramatischen Anstiegs der Zahl der Todesopfer nicht das vorherrschende Narrativ der polizeilichen „Selbstverteidigung“ in Frage, hinter dem sich gezielte Tötungen verbargen. Informelle Normen politischer Unterwürfigkeit, insbesondere in einem klientelistischen System wie den Philippinen, wo das politische Überleben oft eher von der Loyalität gegenüber mächtigen Persönlichkeiten als von ideologischen Verpflichtungen abhängt, spielten bei diesem Versagen eine zentrale Rolle.

Auch wenn die Details sich unterscheiden, zeigte sich in Brasilien ein ähnliches Muster. Sowohl Temer als auch Bolsonaro verstärkten eine Reihe von zuvor marginalen Normen, die tödliche Polizeigewalt rechtfertigten, oft in direktem Widerspruch zu rechtlichen Standards. Diese informellen Normen wurden durch öffentliches Lob für gewalttätige Beamte, symbolische Handlungen und Gesetze, die die Polizei vor der Rechenschaftspflicht schützen sollten, bekräftigt. Das Narrativ vom Krieg gegen das Verbrechen rechtfertigte außergewöhnliche – und oft illegale – Maßnahmen. Unterdessen sahen die formellen Aufsichtsmechanismen – vom Kongress bis zu den Staatsanwälten – weitgehend tatenlos zu. Ihre Untätigkeit beruhte auf verschiedenen Faktoren wie ihrer politischen Ausrichtung, der Trägheit der Institutionen und der Angst vor negativen Wahlauswirkungen in einer Gesellschaft, in der öffentliche Sicherheit nach wie vor ein bedeutendes politisches Thema ist.

In beiden Ländern gelang es den Präsidenten, eine vormals randständige Hardliner-Position in eine Mainstream-Doktrin für die Strafverfolgung zu verwandeln. Dadurch wurden Institutionen, die eigentlich als Kontrollinstanzen dienen sollten, zu passiven Beobachtern.

Die Forscher*innen kombinierten eine umfassende Datenanalyse mit Feldforschung, einschließlich Interviews mit Bürgermeister*innen, Gouverneur*innen, Polizeikommandeur*innen, Staatsanwält*innen und Menschenrechtsvertreter*innen. Ihre Ergebnisse wurden in zwei PRIF Reports, mehreren PRIF Spotlights und verschiedenen Blogartikeln veröffentlicht. Weitere Veröffentlichungen von Peter Kreuzer befassen sich mit der Frage, wie Politiker*innen auf den Philippinen seit langem mit tödlicher Gewalt gegen politische Gegner*innen vorgehen – Praktiken, die zwar offiziell verurteilt werden, aber im lokalen politischen Wettbewerb weiterhin fest verankert sind.

Die von Kreuzer und Natal identifizierten Mechanismen, die dem Kontrollversagen zugrunde liegen, sind nicht allein auf Brasilien und die Philippinen beschränkt. Sie vermitteln weitergehende Erkenntnisse über die Grenzen der demokratischen Widerstandsfähigkeit: Formale Institutionen wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Menschenrechte sind unerlässlich, aber nicht ausreichend. Ihre Wirksamkeit hängt davon ab, ob die politischen Eliten die Grundsätze, für die diese Institutionen stehen, wirklich aufrechterhalten und verteidigen – auch unter Druck. Wenn informelle Normen und politische Interessen die verfassungsmäßigen Werte außer Kraft setzen, können selbst die stärksten formalen Rahmenbedingungen versagen. (ewa)

Weiterlesen

Kreuzer, Peter: The Arrest of Rodrigo Duterte: A Turning Point for Justice and Accountability?, PRIF Blog, 12. März 2025 .

Natal, Ariadne/Kreuzer, Peter: Violent Mandates: Presidential Power, Institutional Failure, and the Rise of Police Killings in Brazil and the Philippines, PRIF Report 6/2024, Frankfurt/M.

Kreuzer, Peter/Natal, Ariadne: Police Use of Deadly Force in Brazil and the Philippines: What Macro-Level Factors Tell us, PRIF Report 4/2023, Frankfurt/M.

Kreuzer, Peter: Killing Politicians in the Philippines: Who, Where, When, and Why, PRIF Report 2/2022, Frankfurt/M.

Kreuzer, Peter: „If You Can‘t Beat Them, Kill Them“. Fatal Violence Against Politicians in the Philippines, PRIF Report 2/2021, Frankfurt/M.